Vom Fuchs und vom Storch


Der „Trierer Äsop”

Die Handschrift 1108/55 4° der Trierer Stadtbibliothek entstammt der Benediktinerabtei St. Matthias, einst vor den Toren der Stadt gelegen, und wird auf das späte 14. oder das frühe 15. Jahrhundert datiert. Im ältesten erhaltenen Bibliothekskatalog der Abtei wird die Handschrift als „Buch der Fabeln des Äsop samt Moralen und Bilder” bezeichnet. Die Handschrift bietet eine mittelalterliche Bearbeitung der antiken Sammlungen des Romulus und des Avian und es wird vermutet, dass der „Trier Äsop” zu pädagogischen Zwecken verwendet wurde.

Äsop, über den wenig Sicheres bekannt ist, war ein griechischer Sklave, der im 6. Jahrhundert vor Christus auf der Insel Samos gelebt haben soll und als Erfinder der Fabeln gilt. Diese Erzählungen über Tiere mit sehr menschlichen Zügen sollten meist belehrend wirken. Die Moral am Ende des Textes über den Fuchs und den Storch ist ein Beispiel dafür. Auch heute noch kennt man eine Redewendung, in der die gleiche Aussage steckt: „Was Du nicht willst, dass man Dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.” Oft werden dabei in Fabeln mit Witz und Alltagswissen charakterliche Schwächen, die man vom Menschen kennt, verdeutlicht. Die Fabeln wurden oft übersetzt, weit verbreitet und auch in Klosterschulen eingesetzt.

Der lateinische Text

De vulpe et cyconia

Vulpes invitavit ciconiam ad prandium liquida cibaria apposuit. | Que illa nec scivit (nec sumere potuit |vulpe igitur saturata quae modum sumendi scivit et caconia jeunna recessit et vatua | deinde post breve tempus ciconia vicem reddere vulpi non neglexit Ipsamque invitatem ad cenam in domum suam introduxit et bonas epulas in vitrea amppulla ei praeposuit | monuitque eam ut dilligenter comeder et at illa tum prae angustia vasis cibum attingere non possit se delusam cognoscens erubuit valde tunc ait ei ciconia si bona ministresti bona | recipe | si minus hoc nobis indulge. | Moralitas Sic monemur alijs facere quae nobis fieri cupimus | quia munus dat munus et geminos calaphas nonumquam reddere solet unus

Eine deutsche Übersetzung

Von Fuchs und Storch

Ein Fuchs lud einen Storch zum Essen ein. Er trug ihm flüssige Speisen auf. Der Storch wusste weder, wie er die Speisen zu essen hatte, noch konnte er diese zu sich nehmen. Der Fuchs hingegen wurde satt, weil er wusste, wie man die Speisen zu sich nimmt. Der Storch ging kraftlos und hungrig davon. Dann nach kurzer Zeit ließ es sich der Storch nicht entgehen, es dem Fuchs auf gleiche Art zurückzugeben und lud selbst zu einem Mahl ein. Er führte den Fuchs in sein Haus und setzte ihm leckeres Essen in einer Glasflasche vor. Er forderte ihn auf, diese Speisen auch ganz aufzuessen. Aber der Fuchs errötete, als er erkannte, dass der Storch ihn verspottete, da er wegen der Enge des Gefäßes das Essen nicht erreichen konnte. Daraufhin sagte der Storch zu ihm: „Wenn Du im Guten gehandelt hast, dann erhalte Gutes zurück. Wenn nicht, lass uns einander verzeihen.” Die Moral: Daher werden wir ermahnt: Wie wollen, dass andere sich so benehmen, dass wir von ihnen geschätzt werden. Weil auf ein Geschenk ein Geschenk folgt und manch einer mit gleichen Faustschlägen zu vergelten pflegt.

Literatur

Embach, Michael: Der ‚Trierer Äsop’ (StB Trier, Hs 1108/55 4°). Eine illustierte Fabelhandschrift im Kontext ihrer Überlieferung. Trier 2010.

 

       
zum Seitenanfangzum Seitenanfang